Pierre Legendre und die Zivilisation des Interpreten

Während die Namen von Deleuze, Derrida oder Foucault an den deutschen Universitäten inzwischen äußerst geläufig sind, sind andere französische Denker von Gewicht noch nahezu unbekannt. Vom 79jährigen Psychoanalytiker und Rechtshistoriker Pierre Legendre liegen in deutscher Übersetzung bislang nur wenige Schriften vor, am bekanntesten wurde seine kurze Abhandlung Die Fabrikation des abendländischen Menschen. Mit seiner ‘dogmatischen Anthropologie’ entwickelt Legendre ein Theoriegebäude, dessen große Thesen ebenso faszinierend sind wie auch zum Widerspruch und Weiterdenken anleiten. Zentral stehen in seinem Werk die Macht der Schriftzeichen und die Reflexion über Gesetz und Gesetzgeber, die erst den abendländischen Menschen produzieren:

“Den Menschen zu fabrizieren, heißt ihm die Grenze anzugeben. Das Herstellen der Grenze heißt die Vorstellung des Vaters in Szene setzen, den Söhnen des einen und des anderen Geschlechts das Verbot aufzuerlegen. Der Vater ist zunächst eine symbolische Angelegenheit, etwas Theatralisches, eine lebendige Täuschung, die die Gesellschaft der Soziologen und die Wissenschaft der Biologen zunichte macht.”

Pierre Legendre: Die Fabrikation des abendländischen Menschen. Zwei Essays. Aus dem Französischen von Andreas Mayer. Wien: Turia + Kant, 1999. S. 27.

Vom 5.-7.11.2009 fand nun in seiner Anwesenheit an der Université du Luxembourg eine Konferenz zum Œuvre Pierre Legendres statt, die unter dem Titel Die Zivilisation des Interpreten stand und auf der sich Koryphäen der Kulturtheorie und der Literaturwissenschaft wie Werner Hamacher (Frankfurt/Main), Georg Mein (Luxemburg), André Michels (Luxemburg), Clemens Pornschlegel (München), Manfred Schneider (Bochum) und andere mit seinem Werk auseinandersetzten, auch seine aktuelle Übersetzerin Sabine Hackbarth (Luxemburg) war vor Ort.

Eine Einführung in das Werk Legendres, ausgehend von einem Gespräch, das die Journalistin und Medientheoretikerin Ania Mauruschat mit ihm auf der Konferenz geführt hat, ist nun im Nachtstudio von BR 2 gesendet worden (Manuskript / Podcast). Darin äußert sich Legendre unter anderem zur aktuellen Situation im ‘alten Europa’:

“Was wir heute erleben, hat aber auch einen ungemein positiven Effekt, nämlich dass die Grenzen in unserer Welt sich öffnen. Das ist ein Glücksfall. Denn das gibt dem Denken in der ganzen Welt, insbesondere aber dem Denken hier im alten Europa, noch einmal die Möglichkeit die Frage zu stellen, wer wir eigentlich sind. Denn – die Vorherrschaft der europäischen, der westlichen Welt bricht zusammen und verschwindet. Durch den Lauf der Dinge werden wir dazu gezwungen, auf die Vorstellung zu verzichten, es gäbe so etwas wie eine höhere Kultur, eine Kultur, die höher oder besser sei als andere Kulturen. Ich behaupte nicht, dass die Idee unserer Höherwertigkeit schon völlig verschwunden wäre, aber sie wird jetzt doch vom Rest der Welt nachhaltig bestritten, und die Dinge laufen nicht mehr so, wie sie bisher gelaufen sind. Es gibt Gegenwind. Die Völker, die wir bisher unterdrückt und zermalmt haben, machen da nicht mehr mit.
Ich möchte es einmal so sagen: In allen Kulturen der Menschheit geht es um die Einrichtung der Vernunft. Überall geht es darum, die Vernunft zu erobern gegen das Reich des Maßlosen und Phantastischen. Die Vernunft ist ja keine Rente, die man einfach beziehen könnte, sie ist auch nichts Naturgegebenes, sie muss ständig neu erkämpft werden. Und in der Geschichte der Menschheit gibt es auch immer wieder konvulsivische Anfälle der Unvernunft oder des Wahns. In der europäischen Geschichte kennen wir nur allzu gut die blutigen Katastrophen, die mit der Institutionalisierung der Unvernunft einhergehen. Wir weigern uns aber, den irrationalen Missbrauch von Naturwissenschaft, Technik und Medizin tatsächlich zu denken und ihm entgegenzutreten, also der gängigen Propaganda, wir könnten mittels Wissenschaft und Technik sämtliche Phantasmen demnächst glücklich realisieren. Das sind Anfälle der Unvernunft. Ich sehe darin einen Rückgang der Zivilisation.
Der Westen versucht – im Namen der Freiheit, im Namen der Demokratie, im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts – diese Unvernunft und dieses Nicht-Denken dem Rest der Welt als Standard aufzuzwingen. Genau das funktioniert aber nicht. Für den Rest der Welt ist das völlig obskur, total unverständlich. Wir beobachten stattdessen eine weltweite Eskalation der Unvernunft, der Irrationalismen und Obskurantismen. Ich denke in der Tat, dass die derzeitige wissenschaftliche und medizinische Kultur des Westens – ungeachtet all ihrer Leistungen und Erfolge, darum geht es nicht -, uns in einen Abgrund der Unvernunft und des Wahns zieht. Die nicht-westliche Welt reagiert auf diese Unvernunft, und zwar indem sie ihr gewissermaßen auf Augenhöhe antwortet – also mit genauso unvernünftigen Phantasmen. Das meine ich mit Eskalation. Unsere Praktiken und unser Nichtdenken produzieren Gewalt, überall auf der Welt.”

 

Beitrag teilen
Kategorie: Termine, Konferenzen, Vorträge | Tags: , ,

About Thomas Ernst

Thomas Ernst is Professor of Modern German Literature at the University of Antwerp. He also works at the University of Amsterdam and holds a venia legendi on Media and Cultural Studies/German Studies at the University of Duisburg-Essen. His research focuses on the construction of identities, images of Germany and Europe, multilinguality and transcultural spaces in Austrian and German literature; on experimental and subversive Austrian and German literatures in the 20th and 21st century; and on the digital transformation of media and its cultural effects (literature and social media; intellectual property rights; digital publishing). His publications include books on “Popliteratur” (2001/2005), “Literatur und Subversion” (2013) and numerous papers that have been published in international magazines and book series with peer-review. At the moment, he is working on a monograph on literature and social media.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *